Wenn Pflaster sich lösen..

Menschliche Gefühle sind unergründlich. Meine Gefühle sind unergründlich. Oder ist es der weibliche Zyklus, der meinen Hormonhaushalt so durcheinander wirbelt? Schrieb ich doch gestern oder vorgestern noch Folgendes über meinen Pflaster-Menschen – über unser Treffen, das so enorme Glücksgefühle in mir auslöste:

Wir stehen eng umschlungen an der Straße, ich werde von dir an einen Zaun gedrückt und fühle mich nicht zerquetscht, sondern wie etwas oder jemand, den man festhalten will. Fest halten. Und wie fest du mich hältst. Du bist erkältet. Männergrippe. Ausgang mutmaßlich tödlich. Natürlich. Aber du kämpfst dagegen an. Und hältst mich fest umklammert. So als wäre ich nicht nur dein Pflaster, sondern auch deine Medizin. Dein Gesicht an meinem Hals. Deine Nasenspitze kitzelt mich. Du atmest mich ein, als wäre ich ein Parfüm. Nimmst einen tiefen Zug. Als wäre ich eine deiner Zigaretten. Von denen du nicht mehr lassen kannst. Und sagst dann, fast flüsternd: „Schade, dass ich gerade erkältet bin und nichts von dir riechen kann.“

Und wir stehen noch immer so da. Eng umschlungen von den Armen des anderen. Als gäbe es nur uns beide auf der Welt. Als hätten wir uns selbst verloren. Und wieder gefunden. In den Augen des anderen. Unsere Lippen sind verschmiert von dem Rot meines Lippenstifts. Ich lache dich an und wische dir sanft ein paar Reste des Rots von der Oberlippe. Das ist kein sattes, knalliges Dunkelrot mehr. Es ist ein leuchtendes, warmes Rosa. Da bekommt der Satz „alles durch die rosarote Brille sehen“ doch schlagartig eine andere Bedeutung. Ich habe nur noch Augen für deine rosafarbenen Lippen. Und es ist süß, wie wir da stehen und uns gegenseitig genau dieses Rosa von den Lippen zu wischen versuchen. Du befeuchtest deinen Zeigefinger mit etwas Spucke und tupfst mir die Lippenstiftreste sanft und liebevoll weg. So wie das Mütter manchmal bei ihren Kindern machen – nur dann eben Essensreste oder so. Ich fühle mich behütet.

Zwei Tage später und die rosafarbenen Überbleibsel meines Lippenstifts sind aus unseren Gesichtern verschwunden. Und das anscheinend nicht nur in der Realität, sondern auch im übertragenen Sinne. Wir treffen uns wieder. Und doch ist diesmal alles irgendwie anders. Zumindest aus meiner Perspektive. Dabei ist sogar der Ort unseres Treffens beinahe identisch. Nur dass wir diesmal unsere Decke unter einem anderen Baum ausbreiten. Und dass wir dieses Mal nicht alleine sind: ich habe meinen Hund mitgebracht, den du bisher noch nicht kennengelernt hast. Ihr versteht euch gut, er mag dich. Wichtig. Aber ich merke auch, dass es dich stört, dass du nun nicht mehr meine ungeteilte Aufmerksamkeit für dich alleine hast. Dass du es schön fändest, wenn ich dich genauso anschauen würde wie meinen Hund. Tu ich aber nicht. Ich bin aus mir selbst unverständlichen Gründen etwas angespannt. Fühle mich nicht so entspannt wie beim letzten Mal, obwohl ich selbst da nicht wirklich tiefenentspannt war. Vielleicht liegt es wirklich an meinem kleinen Welpen, der so viel Aufmerksamkeit und Liebe für sich einfordert.

Trotzdem ist irgendetwas anders, dieses Mal. Als würde ich dich, mich, uns beide, in einem anderen Licht sehen, mit anderen Augen. Ohne rosaroten Lippenstift. Ohne das Gefühl, einen weiteren Moment für mein Marmeladen-Glücksglas sammeln zu müssen. Sammeln zu wollen. Ich bin gerade nicht beschwingt, spüre das Glück nicht so richtig und das merkt man sicherlich daran, wie anders meine Worte heute klingen. Du sagst mir, dass meine Frisur (Ich habe eine neue Flechtfrisur ausprobiert, was für meine Verhältnisse eine Seltenheit ist, da ich sie fast immer nur offen trage) etwas Elfenartiges hat, und ich schätze, das ist ein Kompliment. Aber mir fällt auf, dass es mich heute auch nicht stören würde, wenn du dein Missfallen diesbezüglich äußern würdest. Ich fühle mich ungewohnt emotionslos und starr. Du suchst die ganze Zeit über Körperkontakt und lässt deine Hand immer mal wieder vermeintlich unauffällig neben meiner ruhen, berührst mich wie beiläufig am Rücken, legst deinen Kopf auf meine Schulter oder auf meinen Bauch. Und das alles fühlt sich natürlich nicht schlecht an, aber selbst wenn ich wollte, könnte ich meine Gedanken hierzu nicht in dieselben kitschigen Worte packen wie ich dies letztens getan habe. Ich spüre deine Berührungen auf meiner Haut, aber ich spüre sie (dieses Mal) nicht in meinem Herzen.

Ich begreife es ja selbst nicht. Wie man so unterschiedlich auf ein und denselben Menschen reagieren kann. Wie anders ich diesen Tag heute wahrgenommen habe als den letzten. Derselbe Ort, derselbe Mensch, wieder eine Partie Schach. Eigentlich hat sich nichts verändert. An der Oberfläche. Und in mir drinnen doch alles. Dass Gefühle flüchtig sind und sich ständig wandeln, war mir ja bewusst, aber innerhalb von zwei Tagen? Und ohne ersichtlichen Grund? Du scheinst nichts bemerkt zu haben, oder willst es nicht. Jedenfalls küsst du mich irgendwann, und da ich dieses Mal keinen Lippenstift aufgetragen habe, färben sich unsere Lippen auch nicht rosarot. Ich küsse dich zurück, wie zum Test. Mehrmals. Aber ich spüre nichts. Nichts außer unseren Lippen aufeinander. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade irgendjemanden geküsst und ich schaffe es dieses Mal nicht, mich im Küssen zu verlieren. Mich in dir zu verlieren. Oder im Glückstaumel. Da ist nichts und ich frage mich, fast verzweifelt, doch irgendwie auch erleichtert, wohin dieses Gefühl verschwunden ist. Dieses Gefühl, wenn du sanft meinen Hals küsst und ich unter diesem Kuss dahin fließe. Nun liege ich da, während du meinen Hals küsst, habe die Augen offen und denke zu viel, und beobachte die Menschen um uns herum.

Irgendwann schaue ich auf mein Handy und erzähle dir belustigt, dass mir meine Mutter gerade einen Psychotest geschickt hat, mit dem man herausfindet, ob man zu nett ist. Ich fühle mich gerade absolut nicht nett. Doch als ich den Chat verlasse, kannst du einen Blick auf meine gesamten Chatverläufe werfen und ich ziehe mein Handy zu langsam wieder weg. Denn du hast schon bemerkt, dass ich dich ausschließlich unter deinem Nachnamen eingespeichert habe. Und reagierst etwas gekränkt. Ich versuche es noch abzustreiten, nachdem ich leider knallrot angelaufen bin, weil mir das Ganze furchtbar peinlich ist, aber es ist zu spät. Also versuche ich, die unangenehme Situation zu überspielen und widme mich meinem Hund – versuche, das Thema schnell wieder fallen zu lassen, indem ich nur kurz sage, dass das alles schon seine Logik hätte. Und du fragst zum Glück nicht weiter nach, nennst mich aber daraufhin „Cash“, eine etwas seltsame Konstruktion aus meinem Namen. Hättest du nachgefragt, hätte ich dir erklären müssen, dass das alles vollkommen logisch ist und durchaus seine Berechtigung hat. In deinem Freundeskreis nennen sich alle Jungs nur bei ihrem Nachnamen, die habt ihr zu euren Spitznamen umfunktioniert. Ich konnte dich nicht mit deinem Vornamen oder dem Spitznamen einspeichern, den ich dir sonst gebe, weil ich beschlossen hatte, mich emotional von dir zu lösen. Weil diese Gefühle nirgendwo hinführen können. Und weil ich, wenn ich deinen Namen lese, so viel Schönes damit verbinde, dass es weh tut. Weil ich, wenn ich deinen Namen lese, nicht an Freundschaft denken kann. Und so hab ich ihn kurzerhand ersetzt, durch deinen Nachnamen. Der diese Gefühle eben nicht in mir auslöst. Nun starre ich jedes Mal erschrocken auf deinen Nachnamen, wenn du mir schreibst, schaffe es aber dadurch, mich von diesen Emotionen zu lösen. Und anscheinend klappt das ja wirklich hervorragend. Ich bin froh, dass du nicht weiter nachfragst.

Und ich bin auch irgendwie froh, als du langsam aufbrechen willst. Dann hältst du mich aber noch eine sehr lange Zeit im Arm, küsst mich wiederholt. Und ich fühle, wiederholt, nichts. Du spielst an meinem Oberteil und riskierst irgendeinen doofen Spruch über meinen BH. Du scherzt herum, dass meine Brüste doch bestimmt einen Kilo oder so wiegen, als ich mich darüber beklage, wie schwer wir Frauen es im Sommer mit den blöden BHs haben. Du hast offensichtlich keine Ahnung, 1kg Brust trage ich nicht vor mir her. Dann willst du witzig sein, berührst meinen Bauch und meinst, dass das Kilogramm aber doch da drin wäre. Ich lache nicht. Bin auch nicht richtig beleidigt, aber genervt. Und lasse ihn das spüren. Einen Abschiedskuss kriegt er für den doofen Spruch dann auch nicht.

So viel zum emotional Lösen. Hat irgendwie unerwartet dann wohl doch geklappt. Schrieb ich letztens noch, dass ich sein Pflaster sei, so hat sich das Pflaster nun anscheinend gelöst. Ich klebe nicht mehr an ihm, und will das auch gar nicht. Vielleicht konnte ich diesen letzten Glücksmoment so gut beschreiben, weil ich innerlich ahnte, dass es der letzte sein wird. Der wäre dann immerhin festgehalten. Falls mir meine sonderbaren Hormone (ich kriege bald meine Tage) nicht doch noch einen Strich durch die Rechnung machen. Mag man dieselben Menschen zu bestimmten Phasen seines Zyklus weniger? Gibt es dazu irgendwelche Studien vielleicht? 😂 Aber das wär ja verrückt. Ansonsten hab ich den ultimativen Tipp, um über seine Gefühle hinwegzukommen (also anscheinend): einfach mal den Mann ganz sachlich nur mit dem Nachnamen einspeichern. Man kann ja schlecht für jemanden schwärmen, den man als (Herr) Meier (oder so) eingespeichert hat, oder?

7 Kommentare zu „Wenn Pflaster sich lösen..

  1. Was ich hier und auch im Beitrag davor nicht finde, sind die Gründe, warum das mit euch nicht klappen kann. Scheinbar haben deine anderen Leser da mehr Hintergrundinfos als ich. Denn das hinterfragt keiner.

    Schön beschrieben ist es wirklich. Und ich dachte beim Lesen immer: Ach wie schön! Endlich mal positive Nachrichten.

    Doch jetzt ist schon wieder alles weniger rosig?
    Geh bitte nicht mehr ohne Lippenstift aus dem Haus.💄

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    1. Die habe ich auch bewusst weggelassen 🙈 Ich wollte keine rationalen Gründe dazuschreiben, sondern mir einfach nur meine Gefühle an diesen Tagen bewahren. Der Hauptgrund ist aber wohl, dass wir uns beide gerade nicht wirklich auf das Risiko einer Beziehung mit dem anderen einlassen wollen, zu verschieden sind allgemein. Wir wollen ganz einfach andere Dinge vom Leben und als Paar würden wir nie nie niemals funktionieren.
      Achja, die Hormone (oder so)😅 ich weiß ja auch nicht, wie meine Wahrnehmung so urplötzlich umschlagen kann😂
      Der Spruch! Haha, zum Glück verlasse ich das Haus wirklich selten ohne Lippi🙊😂😂😂

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